
Seit nicht mal einer ganzen Woche läuft der französische Film „Cuties“ auf Netflix – und schon jetzt steht gefühlt das ganze Netz in Brand. Alleine auf Twitter überschlagen sich die wütenden Kommentare und Reaktionen zu dem Film. Mittlerweile trendet sogar der Hashtag #CancelNetflix in den sozialen Medien und auf change.org haben bereits über eine halbe Millionen Menschen in einer Petition dafür unterschrieben, das Netflix-Abo zu beenden. Und der Grund und Vorwurf könnte kaum eindeutiger sein: „Cuties“ zeige die Sexualisierung von jungen Mädchen und gebe damit Pädophilen die perfekte Plattform.
https://twitter.com/Larsihasiiiii/status/1304330263481053184
I watched Cuties and I wish I didn’t. People are not overreacting. The movie is bad and it should be removed. There were scenes involving minors that were gratuitous. The filmaker could have conveyed her message without the sexual exploitation of minors. #Cuties #cutiesnetflix
— Kia Richards (@KiaRichards_) September 13, 2020
https://twitter.com/MistyJRowsell/status/1304420031225368578
I've been a Netflix customer since nearly day one. I love the service, but can no longer support the company.
Their new movie #Cuties is at best, a tone-deaf attempt to bring light to an important issue while exploiting its child actors.
At worst, it's normalizing pedophilia. pic.twitter.com/rrLX18mUbI
— Calvin Mickel (@calvin_mickel) September 12, 2020
Viele diskutieren darüber, ob es nötig ist den Film boykottieren. Ich finde ja, weil Pädophile sich bestimmt den Film nicht anschauen um die message da drin zu verstehen. #CancelNetflix
— Sony (@Sony0380) September 11, 2020
Und ja, wer sich den Film angeschaut hat, kann kaum leugnen, dass das dort Gezeigte krass ist. Wir selbst haben uns am Wochenende ein Bild davon gemacht und müssen ehrlich zugeben, dass es uns nicht nur einmal unangenehm die Kehle zugeschnürt hat. Denn zu sehen, wie diese jungen Mädchen in knappen Höschen, kaum größer als ein Gürtel, und bauchfrei vor erwachsenen Männern ihren Po shaken oder vor einer Jury lasziv auf ihren Fingern rumknabbern und Dancemoves vorführen, die mehr an Trockensex erinnern als alles andere, tut weh und ist mehr als nur befremdlich.
Ja, „Cuties“ zeigt die Sexualisierung von jungen Mädchen, doch kritisiert diese auch
Für alle Unwissenden: In „Cuties“ wird die Geschichte der 11-jährigen Amy erzählt, einem jungen Mädchen, das in einem strengen, muslimischen Haushalt in Paris aufwächst, und das irgendwie versucht, ihren Platz in der Welt zu finden. Einer Welt, in der für sie die strikten Konventionen und Traditionen des Islams und den Versuchungen der westlichen Kultur aufeinanderprasseln. Letztere werden im Film vor allem durch eine Tanzgruppe junger Girls an ihrer Schule symbolisiert, zu denen Amy gerne dazugehören möchte. Und schnell wird klar, je aufgereizter die Mädchen dancen, je knapper die Kleidung ist und je weiter die Beine gespreizt werden, desto mehr Aufmerksamkeit bekommen sie. Doch wer den Film aufmerksam angeschaut hat, dem wird eben auch klar, dass Filmemacherin Maïmouna Doucouré, die übrigens teilweise ihre eigene Geschichte in „Cuties“ verarbeitet hat, genau diese Szenen kritisiert.
Besonders deutlich wird das in den finalen Momenten des Movies. Amy und ihre neuen Freundinnen tanzen bei einem Wettbewerb ihre Choreo (bei der einem wirklich schlecht wird) und irgendwann sieht man, wie bei Amy die Tränen hochkommen und sie völlig verzweifelt zu ihrer Mutter nach Hause rennt. Spätestens hier wird einem klar: Diese jungen Mädchen schreien eigentlich nur verzweifelt nach Hilfe. Ihnen fehlt das Vorbild, das ihnen zuhört und versucht, den richtigen Weg zu zeigen. Der natürlich nicht darin besteht, halbnackt rumzulaufen und in aufreizenden Posen zu tanzen. Das macht auch der Film ziemlich eindeutig klar!
Netflix und Regisseurin Maïmouna Doucouré reagieren auf die extreme Gegenwelle
Natürlich mindert das nicht die Wirkung, die diese Szenen im Film nach außen haben, das ist uns völlig klar. Denn wie gesagt, auch bei uns hat sich alles verkrampft, als wir gesehen haben, wie sich diese 11(!!)-jährigen Mädchen verhalten. Amy verschickt irgendwann sogar wie selbstverständlich ein Foto ihrer Vulva an alle Mitschüler und glaubt, dass es der völlig richtige Weg sei, um zu zeigen, dass sie kein Kind mehr ist. Das ist extrem. Wie viele andere Szenen im Film auch. Und trotzdem muss man ganz klar sagen, dass die Absicht von „Cuties“ nicht ist, eine solche Sexualisierung runterzuspielen. Im Gegenteil. „Ich wurde mehrfach von Leuten attackiert, die den Film gar nicht gesehen hatten. Die dachten, ich wollte einen Film machen, der die Sexualisierung von Kindern stark verharmlost“, so Doucouré gegenüber Deadline.
Dass das jedoch keinesfalls ihre Absicht war, macht die Regisseurin nun auch in einem Video-Interview zum Film deutlich: „Amy versucht durch die Gruppe von Tänzerinnen und ihr hyper-sexuelles Verhalten Freiheit zu finden. Aber ist das echte Freiheit? Speziell für ein Kind? Natürlich nicht.“ Es ist ein schmaler Grad, so viel steht fest. Und wir können die vielen aufgeregten Stimmen zu hundert Prozent verstehen. Übrigens muss sich Netflix an dieser Stelle tatsächlich auch selbst ein stückweit den schwarzen Peter zuspielen. Der Streaming-Gigant hat nämlich tatsächlich schon vorab einen Fehler gemacht, als er nicht mit dem Original-Filmposter Werbung gemacht hat, sondern mit einem selbst aufgepimpten Motiv. Und das war definitiv ein Schuss in den Ofen (mehr hier). Zwar folgte daraufhin prompt die Entschuldigung, doch die erste Debatte war dadurch schon kaum mehr aufzuhalten.
Auch zu den neuesten Entwicklungen meldete sich Netflix mittlerweile übrigens bereits in einem Statement zu Wort. „‚Cuties‘ ist ein sozialer Kommentar gegen die Sexualisierung von jungen Kindern. Es ist ein preisgekrönter Film und eine kraftvolle Geschichte über den Druck, mit dem junge Mädchen in den sozialen Netzwerken wie auch innerhalb der Gesellschaft immer mehr aufwachsen müssen. Und wir wollen jeden dazu ermutigen, den diese Themen ansprechen, sich den Film anzusehen“, so ein Sprecher gegenüber Variety.
Eine Message, die auch in dem ansonsten durchaus sehr einfühlsamen Netflix-Streifen deutlich wird, dem können wir nichts absprechen. Ob das alles allerdings den fahlen Beigeschmack wert ist, sei dahingestellt.