Sie ist 1,70 Meter groß, 29 Jahre alt, kommt aus London und wird auf Instagram täglich von knapp 27 Millionen Menschen beäugt. Der Kickstart ihrer Karriere? Ein Musikvideo, in dem das Model fast nackt tanzt – sie kokettiert. Und auch heute gilt sie noch als das absolute Sexsymbol. Die Rede ist von Emily Ratajkowski. Und während ich, als Frau, ganz subjektiv sagen kann, dass ich diese Frau wunderschön, ästhetisch und eindeutig sexy finde, weiß ich auch, dass es beim Wort „Sexsymbol“ Vorsicht bedarf. „Em“ fühlt sich wohl in ihrem Körper, sie weiß, wie sie ihn einsetzen muss, macht ihn zu ihrer Marke, she owns her sexuality. All das, was einer Frau im 21. Jahrhundert zusteht und wofür ich applaudiere.
Doch die Grenze zur Sexualisierung ist eine schmale – die von Männern (aber auch Frauen, fucking shame on you) seit Anbeginn der Zeit und bis heute immer und immer und immer wieder überschritten wird. Plötzlich bestimmt man nicht mehr selbst über sich und das Bild, das man nach außen abgibt – andere tun das für einen. Man wird zum Objekt der Begierde, zum Ziel eines Jägers und Sammlers, man wird zum Gefäß. Ohne, dass man das je wollen würde. Auch hierfür brauchen wir den Feminismus, um zu sagen: Ob ich mich im Rollkragen zeige oder nackt – mein Erscheinungsbild gibt niemandem das Recht, über mich fremd zu bestimmen. Und über genau diese Fremdbestimmung spricht Emily nun in einer Essay-Sammlung für das New York Magazine, an der sie Jahre lang arbeitete.
„Ich musste lernen, dass mein Bild, mein eigenes Spiegelbild, mir nicht mehr selbst gehörte“
In den Essays, auch online zu lesen auf The Cut, gibt das Model und die Unternehmerin mehr von ihrem Innenleben preis als je zuvor. Sie schreibt über Image, Power and Consent, darüber, wie ihr als Model über die Jahre jegliche Autonomie genommen wurde, wie man sie von Mensch zum Motiv machte (s. Zitat o.) – und an einer Stelle über sexuellen Missbrauch. Zum ersten Mal bricht sie in der Öffentlichkeit ihr Schweigen und spricht über einen Vorfall von 2012, bei dem Emily zum Opfer des Fotografen Jonathan Leder wurde. Sie erzählt es so szenisch, so ausführlich, erklärt jeden ihrer Gedankengänge an diesem Tag so genau, dass man meint, man sei selbst dabei gewesen.
Ich würde gerne sagen, dass Gott sei Dank die wenigsten eine solche Situation nachempfinden können, doch Hunderte über Tausende Geschichten von Frauen auf der ganzen Welt – berühmt und nicht berühmt – beweisen das Gegenteil. Und auch ihr habt mir schon das Gegenteil bewiesen, als ich euch nach eurer Geschichte gefragt habe, die ihr still und leise mit euch herumtragt. Genau deshalb geht das Geschriebene von Emily Ratajkowski auch so nahe. Viele von uns, in abgewandelter Version, waren schon selbst dabei.
Jonathan Leder soll Emily Ratajkowski während eines Shootings missbraucht haben
Das Ereignis trägt sich zu, als Emily 20 Jahre alt ist und gerade ihr Kunststudium abbrach, um sich auf das Modeln zu konzentrieren: „Meine Bookerin beauftragte mich, dorthin zu fahren, wo mich ein Fotograf namens Jonathan Leder abholen (…) würde. Wir würden in Woodstock für ein Kunstmagazin namens „Darius“ shooten, und ich würde die Nacht bei ihm verbringen, sagte sie. Dies wurde von der Branche als „unbezahltes Editorial“ bezeichnet, was bedeutet, dass es in der Zeitschrift abgedruckt wird und die „Reichweite“ dann meine Belohnung sei.“ Sie fahren zu ihm nach Hause, von Anfang an begleitet die junge Frau ein ungutes Gefühl. Er erzählte von Models, mit denen er schlief, verunsicherte sie, demütigte sie, machte dann wieder anzügliche Kommentare – Zuckerbrot und Peitsche, die perfekte Manipulation. Doch sie vertraut ihrer Bookerin, die sie immerhin kennt, seit sie 14 war. Die würde schon wissen, welche Jobs sie für sie annimmt. Ihr Ehrgeiz wurde getriggert. „Dieser Typ fotografierte all diese Frauen, aber ich werde ihm zeigen, dass ich die sexieste und klügste von allen bin. Dass ich etwas Besonderes bin.“
Er schießt Polaroid-Bilder von ihr in Unterwäsche, bittet sie dann, sich ganz auszuziehen. Zwischendrin gibt er immer wieder Wein, bis sie irgendwann schon verschwommen sieht, doch sie möchte nicht unhöflich sein, keinen unprofessionellen Eindruck hinterlassen. „Er sagt Dinge wie: „‚Schau, ich liebe dieses Foto wegen deiner Brustwarzen. Deine Nippel ändern sich so schnell von hart zu weich. Aber ich mag sie, wenn sie riesig sind. Ich liebe es, wenn sie riesig sind. Riesig und übertrieben hart.‘ Mir wurde schlecht.„
Irgendwann verabschiedet sich die Make-up-Artistin und Emily erinnert sich an den mitleidigen Blick in ihrem Gesicht, als sie geht. Zu diesem Zeitpunkt ist sie so alkoholisiert, dass sie nicht mehr genau weiß, ob Jonathan und sie überhaupt noch arbeiten oder sich nur noch die Ergebnisse anschauen. „Das nächste, woran ich mich erinnere, ist plötzlich im Dunkeln zu sein.“ Und ab hier wird’s richtig ekelhaft.
„Mir war kalt, ich zitterte und kauerte unter einer Decke. Jonathan und ich saßen auf seiner Couch und die raue Textur seiner Jeans rieb sich an meinen nackten Beinen. Er fragte mich nach meinen Freunden. Mein Mund war trocken. Während ich sprach, rieb ich geistesabwesend meine Füße aneinander und an seinen, um mich zu wärmen. Er sagte mir, er mochte es und ich erinnere mich deutlicher an diesen Moment als an alles andere. Ich hasse es heute immer noch, denn wenn ich meine Füße aneinander reibe, weil mir kalt ist oder ich Angst habe, denke ich an Jonathan. (…) Ich erinnere mich nicht an die Küsse, aber ich erinnere mich, dass seine Finger plötzlich in mir waren. Immer härter, immer drückender (…). Ich konnte Rippen spüren und es tat wirklich sehr, sehr weh. Ich legte meine Hand instinktiv an sein Handgelenk und zog seine Finger mit Gewalt aus mir heraus. Ich sagte kein Wort. Er stand abrupt auf und huschte lautlos die Treppe hinauf in die Dunkelheit.“
Verängstigt und verstört schleicht Emily Ratajkowski in das Bett, das ihr vorher zugewiesen wurde, schläft ein. Als sie am nächsten Morgen nach unten geht, fragt Jonathan lediglich, ob sie eine Tasse Kaffee wolle.
Über Nacht hatte er bereits eines der Polaroids auf seinem Instagram-Kanal veröffentlicht. Sie fährt nach Hause, lässt damit nicht nur den Fotografen an dem Ort zurück, an dem er sie missbrauchte, sondern auch ihre Erinnerung an diesen Tag.
„Jahre vergingen und ich vergrub die Bilder und Jonathan irgendwo tief in meinem Gedächtnis. Ich erzählte niemandem, was passiert ist, und ich versuchte, nicht darüber nachzudenken.“
Und an dieser Stelle breche ich die Geschichte, die längst noch nicht zu Ende erzählt ist, weil noch so viel Demütigendes im Nachhinein passiert ist, einfach mal ab. So viel Wut.
Als jemand, der selbst schon des Öfteren Wäsche- oder Akt-Shootings gemacht hat, weiß ich, wie verletzlich man sich in solchen Momenten ohnehin schon macht. Kaum auszumalen, wie man sich fühlen muss, wenn diese Vulnerabilität ausgenutzt wird. Und ich weiß auch, wie es sich anfühlt, einen sexuellen Übergriff erlebt zu haben. Die Kombi aus beidem? Herzzerreißend.
Viele von uns haben Seiten in ihrem Buch, die sie am liebsten herausreißen würden aber eben nicht können. Umso wichtiger, mutiger und stark ist es, dass wir sie nicht totschweigen und die Täter in die Verantwortung ziehen. Danke, Emily, dass du das getan hast.
Jonathan Leder hat seinen Instagram-Kanal übrigens gelöscht.