Lieber Körper, ich habe dich jahrelang verstoßen, verachtet und gequält. Ich hätte dich ohne jeden Zweifel sofort gegen einen anderen ausgetauscht, wenn ich nur gekonnt hätte. Ich empfand nichts an dir als liebenswert. Ich war froh, wenn du gelitten hast. Weißt du eigentlich, wie schlimm es ist, wenn man jede Minute das Gefühl hat, hässlich zu sein? Wenn man sein ganzes Glücksempfinden nur von dir abhängig macht?
Kinder können grausam sein. Wirklich grausam. Das habe ich schon in meiner Grundschulzeit realisiert. Ich war bereits mit 6 größer als die meisten meines Alters – und deutlich schwerer. Ein Trampel. Meine Mom versuchte mich immer zu beruhigen mit der Aussage, ich hätte einfach „schwere Knochen“, aber die Wahrheit war: Ich war dick. Und meine Klassenkameraden hatten Spaß daran, mir das immer wieder vor Augen zu führen. Als ich einmal in der Pause am Fenster saß, hat mir jemand mein Brötchen aus der Hand geschlagen und gesagt „Das brauchst du nicht, du bist doch eh schon fett genug“, woraufhin der Rest der Klasse in hysterisches Gelächter ausbrach. Auf meine Eins im Schwimmunterricht bekam ich zu hören: „Logisch, Fett schwimmt eben“. Solche Aussagen machen etwas mit einem. Sie heften sich an einen und hinterlassen Narben. Ich glaube, rückwirkend betrachtet, dass es von da an also nur logisch war, dass ich dir – meinem Körper – im weiteren Verlauf meiner Kindheit und Jugend so vieles antat.
Fakt ist, ich habe dich gehasst. Was im Kindesalter nur ein kleiner Samen war, der durch die Hänselei gepflanzt wurde, wuchs mit den Jahren und wucherte so sehr in mir, dass die Ablehnung gegen dich irgendwann so groß und erfüllend wurde, dass ich nichts anderes mehr sah.
Die Pubertät und der erste Liebeskummer kamen – es ging bergab
Als ich in meine Teenager-Jahre kam, nahm ich durch Wachstum schlagartig ab und war auf einmal nicht mehr das dicke, hässliche Kind, sondern groß, langbeinig und schlank. Ich sah viel reifer aus als der Rest meiner Freunde, andere Leute nahmen mich plötzlich als „hübsch“ war. Schon da war mein Verhältnis zu dir allerdings zu gestört, als dass ich diese Ansicht geteilt hätte. Schon da war ich gefühlt dauerhaft auf Diät und verbot mir alles, was für andere völlig normal war: Süßigkeiten, Pizza, Pasta, die Butterbrezel in der großen Pause – tabu. Während andere sich ihre Pommesbox gönnten, stocherte ich in meinem Salat rum. Und fühlte mich danach trotzdem schuldig.
Schlimm wurde es aber erst dann so richtig, als mir das erste Mal das Herz gebrochen wurde. Damals war ich 15 und meine erste große Liebe (5 Jahre älter) hat mir nach zwei Jahren Beziehung (ich sag ja, frühreif) gestanden, dass er fremdgeknutscht habe (Falls du das jetzt liest, du warst trotz allem der beste Freund der Welt. Danke ❤️). Heute schmunzle ich darüber, aber an dem Tag brach eine Welt für mich zusammen. Wie konnte er mir das nur antun? War sie schöner als ich? Schlanker? Attraktiver? Es war der offizielle Startschuss für jahrelange Quälerei. Hungern war für mich ein Leidensventil. Generell war ich nicht gerade der glücklichste Teenager – ich nahm sehr früh die Pille (heute bin ich überzeugt, dass das ein riesiger Fehler war), bekam zusätzliche Hormone gegen meine Akne verschrieben, die so stark waren, dass sie sogar ein ungeborenes Baby hätten töten können (für jedes Rezept musste ich einen negativen Schwangerschaftstest einreichen) und mich depressiv machten und hatte, milde gesagt, kein einfaches Familienverhältnis. In Kombination mit dem Liebeskummer war ich also weit weg von „unbeschwert“, wie man es als junges Mädchen eigentlich sein sollte. In meinem Pubertätswahn fühlte es sich so an, als hätte ich nichts in meinem Leben richtig im Griff, also erschien mir die Kontrolle über mein Gewicht eben der einzige Strohhalm zu sein, an den es sich zu klammern galt.
Und dann war da mein Auslandsaufenthalt in den USA…
Spätestens jetzt warst du mein treuster Begleiter. Du, die Essstörung. 2013 flog ich nach Kalifornien, um für ein halbes Jahr dort eine High School zu besuchen. Ich hatte Fernweh, wollte neue Erfahrungen machen. Es stellte sich aber schnell raus, dass jeder einzelne Tag an diesem Ort daraus bestehen würde, mich zu schinden. Das riesige Angebot an sündhaft ungesundem Essen dort und die Ohnmacht, aus meinen Essgewohnheiten entrissen zu sein, überforderten mich ungemein. Ich wollte nicht das abgepackte Zeug zu mir nehmen, das meine Gastmutter ihren Kindern servierte – die Angst, dicker zurückzukommen und damit schon wieder zum Gespött der Schule zu werden, war viel zu groß. Ich lief also nach Schulende regelmäßig die drei Meilen zum Supermarkt zu Fuß, um mir dort selbst meine Lebensmittel einzukaufen. Die Garage meiner Gastfamilie funktionierte ich zum Fitnessstudio um – jeden Tag absolvierte ich ein straffes Programm aus Cardio- und Kraftübungen. Wenn ich nicht mehr konnte, packte ich noch eine Runde oben drauf. Ich schrieb alles auf, was ich zu mir nahm. Jeden noch so kleinen Bissen. Ich wurde besessen davon, Buch zu führen. Ich stand eine Stunde früher auf, um mir mein Lunch selbst zu packen. Essen gehen mit Freunden war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Zu frustrierend, zu sehen, dass alle irgendetwas Geiles in sich reinstopften und ich mit leerem Teller daneben saß, während alles in mir schrie, dass ich doch einfach nur normal sein wollte. Die Gedanken an Essen kontrollierten alles, was ich dachte, tat und sagte. Alles. So verging in diesen Monaten auch kein Tag, an dem ich meiner Mutter – mein einziger Rettungsanker, 9.000 Kilometer weit weg – nicht jeden Tag davon berichtete, was ich in welchen Mengen aß, wie viel Sport ich trieb und wie es um mein Gewicht stand… Mein Gott, wenn ich das heute lese, bricht mir das das Herz…
(Links ich, rechts meine Mama)
Rückblickend erinnere ich mich nur an ein einziges Mal in der ganzen Zeit, an dem ich mir einen Burger mit Pommes gönnte. Alles andere verbat ich mir. Als wir in einer großen Gruppe nach dem Abschlussball schließlich ins „International House of Pancakes“ gingen und alle stapelweise Pfannkuchen mit Schokosauce, Eis und Sahne bestellten, während ich es einfach nicht übers Herz brachte, rannte ich auf die Toilette und erlebte dort einen völligen Zusammenbruch. Ich wollte um jeden Preis essen, aber es ging einfach nicht. Ich musste mir eingestehen, dass ich die Kontrolle bereits verloren hatte. Ich nahm nicht wahr, dass ich abgenommen hatte, auch wenn es mir alle sagten – stattdessen empfand ich mich dicker denn je, hässlicher denn je, ich konnte mein Spiegelbild kaum ertragen. Es war, als wäre ich in dir gefangen, würde trommeln und schreien und keiner könnte mich hören. Geschweige denn verstehen. Einen Monat vor Ablauf des geplanten halben Jahres fasste ich den Entschluss, frühzeitig nach Hause zu fliegen. Du hast mich einfach fertig gemacht.
Ein Zwang jagte den nächsten
Fast forward zu ein paar Jahren später. Natürlich wurde ich die Essstörung nicht einfach über Nacht los. Du bist, selbst in Zeiten der Besserung, immer wie ein Schatten gewesen, der mir überall hin folgte. Mit meiner nächsten Beziehung – meiner toxischen Beziehung, an die ich meinen letzten Brief schrieb – kam schon wieder das nächste Down. Wieder war ich deprimiert, mit den Nerven am Ende, wieder war Hungern mein einziges Ventil, der einzige Schmerz, der mich „mich selbst“ in irgendeiner Art und Weise überhaupt noch spüren ließ. Und auch hier stürzte ich mich nach der Trennung Hals über Kopf in ein verzerrtes Selbstbild, Abneigung gegen dich, meinen Körper, und alles, was ich war, und in die Mission „je sichtbarer die Rippen, je größer die Thigh-Gap, desto besser“.
Dann folgte eine andere Form des Kontrollzwangs, ein Fitnesswahn. Ich absolvierte knüppelharte Programme, die mir in 10 Wochen einen perfekte Version von dir versprachen – Ich wog jedes Lebensmittel penibel, ich brachte mein eigenes Dressing mit ins Restaurant, ich schrieb mir jede Wiederholung und jedes verwendete Gewicht bei den Kraftübungen im Gym auf, ich maß alle meine Körperteile und wollte jetzt nicht mehr nur noch dünn sein, sondern auch straff und muskulös. Ich wusste genau, welche Mikro- und Makronährstoffe ich wann zu mir nehmen musste, las wissenschaftliche Bücher zum menschlichen Körper rauf und runter. 6 Tage die Woche kasteite ich mich, am 7. Tag der Woche fraß ich als Belohnung dann rituell alles in mich hinein, was mir in den Weg kam. Wenn ich sage alles, dann meine ich alles. Ich verfiel in den nächsten Zwang.
Magersucht ist von außen nicht immer sichtbar
Magersüchtig sein heißt nicht automatisch, 35 Kilo zu wiegen. Magersüchtig sein heißt auch nicht automatisch, dass man sich nach dem Essen den Finger in den Hals steckt und Erbrechen erzwingt. Magersüchtig sein heißt nicht automatisch, dass man tagelang in Hungerstreik verfällt. Magersucht existiert in etlichen Formen, sie fängt im Kopf an und frisst sich von da an wie ein psychischer Virus durch den Rest des Körpers – in welchem Ausmaß man das nach außen hin dann sieht, kann sehr unterschiedlich ausfallen. In meinem Fall war ich zwar dünn, jedoch nie besorgniserregend dünn. Ich musste nie in eine Klinik gehen oder künstlich ernährt werden, davon war ich Gott sei dank weit entfernt. Irgendein Schutzmechanismus gab es wohl doch, irgendeine innere Stimme in mir, die die „Vernunft“ am Ende siegen ließ (insofern man von „Siegen“ sprechen kann). An meiner Krankheit änderte das nichts. Dass ich damals krank war, das sehe ich erst jetzt. Ich habe mir meine eigene Lebensfreude genommen, weil ich mein Äußeres zu meiner einzigen Priorität gemacht habe.
Diese Sache mit der Selbstliebe – Tja, wie lernt man die?
Puh… Wie kam ich da nun raus? Leider gibt es keine geheime Formel, die ich hier enthüllen könnte, keinen schnellen Weg, und vor allem keinen einfachen. Es hat einige Jahre starke Selbstreflexion, persönliches Wachstum und Weiterentwicklung benötigt, um zu verstehen, dass ich so viel mehr bin als mein Aussehen. Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis bin ich oft gestolpert, es floss viel Schweiß, viele Tränen, manchmal purzelte ich auch wieder ein paar Schritte zurück – nichts davon war angenehm. Aber: Wachstum ist nie, niemals angenehm. Ich verbot mir, Kalorien zu zählen, ich stellte ich von heute auf morgen nicht mehr auf die Waage, ich nahm keine Maße mehr – Ich verstand, das alles, was mit Zahlen zutun hat, nichts mit Menschsein zutun hat. Ich fing irgendwann an, mich vor den Spiegel zu stellen und mich ganz genau anzuschauen. Ich fokussierte mich nicht mehr nur auf das, was mir nicht gefiel, sondern suchte nach den schönen Dingen. Welche Komplimente würde ich meiner Freundin machen, wenn sie das wäre? Würde ich sie jemals so beschimpfen, wenn sie in meiner Haut steckte? Was würde ich meiner Tochter sagen, wenn sie ihren Köper so hassen würde wie ich meinen? Fragen wie diese hinterließen über die Jahre hinweg ihr Echo in mir und schließlich passierte diese Sache mit der „Selbstliebe“, von der immer alle reden, von ganz alleine. Langsam, unglaublich langsam, fast ermüdend langsam – aber sie passierte. Ich habe dazu kürzlich diesen Post verfasst und schrieb:
„Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und mein jüngeres Ich mehr lieben. Ich wünschte, wir Frauen (und auch Männer!) würden aufhören, uns mit vermeintlichen Schönheitsidealen zu vergleichen und anfangen, unsere eigene Schönheit zu erkennen. Man schaut ja auch nicht in den Himmel und empfindet manche Sterne als „gut“ und manche als „schlecht“, man bewundert einfach ihre Liebenswürdigkeit. Uns wird beigebracht, dass wir nicht okay sind, so wie wir sind, weil irgendjemand immer „besser“ ist als wir, und das ist so falsch.
Sollte ich jemals das Glück haben, eigene Kinder zu bekommen, wird das das erste sein, das ich ihnen beibringen werde – die Liebe für sich selbst. Die Leute in meinem Leben, die ich als perfekt empfinde, sind keine makellosen Menschen, sie sind diejenigen, die Selbstbewusstsein, Warmherzigkeit und Empathie ausstrahlen, wo immer sie auch sind. Wir sind alle ein perfekt kreiertes Stück Universum und ich wünsche mir, dass wir das alle niemals vergessen.“
In diesem Sinne, lieber Körper…
Ich habe dich jahrelang verstoßen, verachtet und gequält. Ich hätte dich ohne jeden Zweifel sofort gegen einen anderen ausgetauscht, wenn ich nur gekonnt hätte. Ich empfand nichts an dir als liebenswert. Ich war froh, wenn du gelitten hast. Weißt du eigentlich, wie schlimm es ist, wenn man jede Minute das Gefühl hat, hässlich zu sein? Wenn man sein ganzes Glücksempfinden nur von dir abhängig macht? Mein Gott, ich will mich dafür bei dir entschuldigen. Es tut mir so leid! In meiner kranken Gedankenwelt konnte ich einfach nicht sehen, wie wunderbar du bist. Du schenkst mir Lungen zum Atmen. Beine, die mich von A nach B tragen. Augen, die die Schönheit dieser Welt wahrnehmen. Ein Herz, das das Blut in dir zirkulieren lässt – jede Sekunde meines Lebens, das ist doch ein Wunder! Noch dazu ein gutes Herz. Tatsächlich mag ich dieses Herz sogar am allermeisten an mir, denn es ist riesig, es empfindet Mitgefühl und es kann anderen Menschen so wahnsinnig viel Liebe schenken. Du, mein Körper, du bist ein einziges Wunder. Mit all seinen kleinen Makeln und Dellen, Pölsterchen und Narben – dich gibt es nur einmal auf der Welt, du bist gesund – DU BIST GESUND! Was für ein Privileg. Du zwingst Männer in die Knie, wenn ich das will. Du machst mich zur Frau. Und ausgerechnet ich habe das Glück, in dir wohnen zu dürfen.
Ich verspreche dir, ab sofort immer sorgfältig mit dir umzugehen und dich nicht mehr für das zu schinden, was du bist, sondern dir dafür zu danken, dass du mir Leben ermöglichst. Dass du vielleicht sogar irgendwann einem Baby Leben schenkst, wenn Gott will. Dass du die kleineren und größeren Verletzungen des Alltags immer wieder abfängst und heilst. Ich verspreche dir, auf dich zu hören und dir immer das zu geben, was du brauchst. Ich verspreche dir, dich nur von Händen anfassen zu lassen, die dich wertschätzen und nur Finger über dich streichen zu lassen, die keine dreckigen Abdrücke auf dir hinterlassen.
Auch wenn du und ich ab und zu immer noch unsere schlechten Tage haben – und das werden wir vermutlich immer – will ich mich am Ende des Tages doch immer wieder daran erinnern, dass du mir immer nur Gutes willst. Ich versuche, das alles zu sehen wie die Beziehung zu einer geliebten Person: Disharmonien und emotionales Chaos gehören manchmal dazu. Selbst wenn man sich für einen kurzen Zeitraum oberflächlich hasst, kommt man am Ende doch wieder zusammen und liebt sich deshalb doch nicht weniger, richtig?
Es war nicht immer einfach mit dir. Aber jetzt schaue ich an dir herunter, nehme einen langen Atemzug und sage dir: Ich will deine Freundin sein.
Darauf habe ich die ganze Zeit gewartet.