Ich wette jeder, der den Namen Curse hört, hat umgehend irgendeinen Song des Rappers aus den letzten 20 Jahren im Ohr und trägt den dann noch den ganzen Tag mit sich rum. Oder aber er hat direkt seine markante und unfassbar beruhigende Podcast-Stimme im Ohr, die einem so lächerlich simple und daher geniale Sätze entgegnet wie: „Wenn du das Gefühl hast, den Boden unter den Füßen zu verlieren, stell dich auf den Boden, und spüre, dass er immer noch da ist.“
Michael Kurth (41), bekannt unter dem Künstlernamen Curse, ist nicht nur seit mehr als zwei Dekaden in der deutschen Rapszene einer, zu dem alle aufblicken, sondern auch außerhalb der Branche jemand, von dessen klugen Geist man am liebsten etwas abhaben möchte. Als systemischer Coach bietet er verschiedene Workshops und Kurse z.B. zur Meditation an, sein Podcast „Meditation, Coaching & Life“ ist mein Retter in der Not, wenn ich mir im stressigen Alltag ein paar Minuten der Besinnung herbeisehne und sein Film „Waffen“ (zum letzten Album „Die Farbe von Wasser“) hat mich so zu Tränen gerührt und inspiriert, dass ich jeden meiner Freunde dazu gezwungen habe, ihn anzuschauen. Eigentlich fehlt nur noch ein Poster über meinem Bett. Ich geb’s ja zu: Ich bin Fan.
Als trèsCLICK vor einem guten halben Jahr in Michaels DMs geslidet ist, um nach einem Interview zu fragen, blieb die Nachricht erstmal ungelesen. Verdammt, aber irgendwie auch klar, vermutlich wollen Tausende Leute was von ihm, dachte ich – und zack, kürzlich wache ich auf, erblicke mit Zahnbürste im Mund mein semi-erfreuchliches Morgen-Antlitz im Spiegel und gucke auf mein Handy: „Curse hat eine Sprachnachricht gesendet“! Und da war der Termin plötzlich doch ausgemacht. Well, good things take time, they say, right? Ein gutes Ding, das ist dieses Gespräch hier allemal geworden. Hätten unsere Terminkalender es zugelassen, hätte ich mir bei jeder einzelnen seiner Antworten eine neue Tasse Tee geschnappt und mir danach jeweils 3-5 Minuten Zeit genommen, um das Gesagte nachhallen zu lassen.
Lest, lasst euch berieseln, inspirieren, nachdenklich stimmen, erhellen und was auch immer das Interview sonst noch mit euch anstellt.
TC: Michael, ich muss diese Frage einfach stellen, und ich glaube, ganz viele wollen die Antwort darauf unbedingt haben: WANN gibt es endlich neue Musik von dir?
MK: Ich bin gerade dabei, neue Sachen zu machen. Das Verrückte ist, dass ich mir Anfang des Jahres eigentlich einen Plan für die nächsten Jahre zurechtgelegt habe – neue Musik zu machen stand da erstmal für den Herbst/Winter drauf. Dann kam die jetzige Corona-Situation auf und innerhalb eines Fingerschnipsens wurde alles über einen Haufen geworfen. Plötzlich meldeten sich Kumpels von mir, die meinten „Hey, wir sitzen ja jetzt grade nur zu Hause und basteln die ganze Zeit an Beats“ und haben mir die einfach geschickt. Seither sprudeln die Ideen und in den letzten Wochen bin ich intensiv dabei, musikalisch wieder kreativ zu sein. Das heißt es geht nun doch schneller, als ich eigentlich dachte.
Das hört man so, so gerne!
Weißt du, das letzte Album ist ja erst zwei Jahre her, und in dieser Zeit habe ich so viel gearbeitet wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es ist so viel passiert und ich hatte beinahe keine Zeit zum Verschnaufen. Aber die Leute, die auf Musik warten, denken natürlich: Boah, zwei Jahre sind echt lange genug, kann der endlich mal was tun? (lacht)
Da siehst du aber auch mal: Man ist so vorfreudig, dass man eben ungeduldig wird. Und außerdem – die Inspiration kommt und geht ja, wann sie will, und nicht wann du willst, oder?
Hm, es ist eine Mischung. Das eine ist: Wann kommt und geht die Inspiration? Aber wenn man sich nur darauf verlässt, funktioniert das nicht so gut. Diese Vorstellung ist etwas zu romantisch, ich hatte sie selbst jahrelang. Ich habe mittlerweile festgestellt, dass man Inspiration auch „anlocken“ kann – und zwar indem man einfach macht. Also setze ich mich hin, fange an einfach an und lasse es fließen. Ich lasse locker und dann entsteht Inspiration automatisch. Als würde die Inspiration wahrnehmen, dass ich bereit für sie bin und sie jetzt kommen darf. Mittlerweile mache ich das ganz bewusst, aber ohne mich zu verkrampfen.
Sicherlich weißt du, dass viele deiner Kollegen in der Musikbranche dich oft liebevoll als „den Weisen“, „Buddha“ oder „Samurai der Rapszene“ betiteln, weil du so unglaublich geistreich bist! Du hast deinen spirituellen Weg schon vor vielen Jahren eingeschlagen. Empfanden einige das damals als seltsam?
In meine Texte integrierte ich immer schon Aspekte über Selbstbeobachtung und -reflexion und habe die Frage aufgeworfen, warum wir Menschen eigentlich sind, wie wir sind. Schon bei meinem ersten Album teilte es sich also in zwei Lager auf: Es gab diejenigen, die meine Musik genau deswegen feierten, und diejenigen, die irritiert von jemandem waren, der über Gefühle rappt. Im Folgejahr fing ich mit der Meditation und meinen Workshops an und dann war ich selbst derjenige, der dachte, das würde niemals jemand verstehen. Als musste ich zwei verschiedene Kostüme anziehen, um jeweils im Coaching-Bereich und in der Musik ernstgenommen zu werden. Mit diesem Gedanken blockierte ich mich selbst. Irgendwann erreichte ich einen Punkt und nahm meinen Mut zusammen, zu sagen: Ich zeige mich und das, was ich tue, jetzt – und zwar alles. Ab diesem Moment war die Resonanz von außen plötzlich zu 99 % positiv. Auf einmal riefen mich Hardcore-Rap-MCs an, von denen ich jahrelang nichts gehört hatte, und meinten: „Ich habe dank dir angefangen zu meditieren“. Ich hatte so viel Angst vor diesem Schritt und hätte von genau diesen Leuten die größte Kritik erwartet, deshalb war das ein unglaubliches Kompliment.
Diese Wechselseitigkeit ist bis heute sehr schön: Menschen, die sich eher für mein Coaching interessieren, stoßen dann auf meine Musik und andersrum. Das bringt alle zusammen, wie toll ist das? Ganz oft sagen mir Leute auch, sie würden sich nicht trauen, ihren Weg zu gehen. Ich habe es ja am eigenen Leib erfahren und kann daher nur sagen: Es lohnt sich. Es gibt keine Garantie für Erfolg, aber man wird’s nie wissen, ohne es auszuprobieren.
Meinst du nicht auch, dass das mit allem im Leben so ist? Dass Leute, sobald man selbst zu 100 % hinter sich steht, plötzlich automatisch einen ganz anderen Zugang zu einem finden und sich mitreißen lassen?
Das ist ein sehr interessanter Gedanke. Du sagst also, wenn ich wirklich das mache, was mir am Herzen liegt, dann werden die Leute von sich aus merken, dass das real und authentisch ist?
Genau, weil du dann mit einer anderen Haltung in die Welt hinaus gehst und dein Tun einen anderen Vibe bekommt. Somit entsteht mehr Platz für Positives.
Wow, ja, ich stimme dir absolut zu. Das sagt uns also: Wenn ich einen Traum habe und den umsetzen möchte, ist der erste Schritt gar nicht, zu überlegen, wie man sich im Markt positionieren will. Der erste Schritt ist, zu fragen, was ICH will, was MEIN Leben bereichert und worin ICH aufgehe? Nur dann kann ich auch überzeugend wirken. Ja!
Wenn wir schon beim Überzeugen sind… Was ist die größte Lüge, die du dir manchmal über dich selbst erzählst?
Puh. Diese Frage ist extrem schwierig zu beantworten, und ich sage dir wieso: Ich habe oft einen sehr starken inneren Kritiker, der mir bestimmte Dinge entgegenruft. Wenn ich mich deiner Frage annähere, kommt dieser Kritiker direkt in meinen Kopf und sagt: „Michael, vielleicht ist das aber auch keine Lüge, sondern eine Wahrheit, die du nicht hören willst!“ Also, wenn ich genau an die Stelle höre, wo diese Stimme am lautesten Schreit, muss ich sagen… Die größte Lüge, die ich mir manchmal über mich selbst erzähle, ist, dass ich ein schlechter Mensch bin. An gewissen Punkten in meinem Leben habe ich einfach so große Fehler gemacht, die ich nicht mehr rückgängig machen kann, dass ich diesen Gedanken ab und zu habe.
Das ist ja genau das, was unser Ziel sein sollte – dass wir erkennen, dass die Stimme in unserem Kopf eben nicht WIR sind, sondern nur eine Stimme in unserem Kopf!
Genau, und der Kritiker ist schließlich auch nur eine von ganz vielen Stimmen! Die ist ziemlich laut, Freud nannte sie das „Super-Ego“, das über allem anderen steht. Für unsere Selbstregulierung ist sie aber auch zu Teilen wichtig, man muss nur erkennen, dass es neben dem Kritiker auch noch ganz viele andere Stimmen in uns gibt, die genau so ihre Daseinsberechtigung haben. Wenn man das versteht und eine entsprechende Attitüde hat, kann man sagen: „Okay, es ist schön, dass du da bist, du machst ja auch nur deinen Job, aber DU arbeitest für MICH. Du bist nicht der Boss, du darfst mir gerne Informationen geben, aber was ich damit mache, entscheiden wir alle zusammen im größeren Gremium.“ Das hilft ungemein.
Bei all dem Wissen und den Methoden zur Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung, die du hast, schaust du aufs Leben manchmal durch eine „analytische Brille“, die zur Last werden kann?
Früher viel stärker als jetzt. Vor 10-15 Jahren war Spiritualität für mich im Allgemeinen eher „analytisch“. Ich machte mir zu viele Gedanken über mich und die Welt, und zwar eher auf intellektuellem Level. Im Jetzt, wo ich mich mehr mit der Erfahrung an sich beschäftige und weniger mit Grübeln, kann ich besser wahrnehmen und fühlen und bin dadurch auch weniger analytisch. Eine Sache, die ich in meinen Coachings gelernt habe, ist, dass man anderen Menschen gegenüber nur wertschätzend sein kann, wenn man die eigenen Interpretationen und Filme, die in einem ablaufen, lernt, nach hinten zu stellen. Nur so kann man offen bleiben. Ich bin dankbar, dass ich das schon so früh geübt habe. Wenn ich mich also jetzt mit Menschen unterhalte, kann ich meine eigenen Gedanken dazu erstmal zurückhalten. Und wenn nicht, frage ich bewusst bei meinem Gegenüber nach, ob ich meine Ideen oder meine Meinung äußern darf.
Derjenige entscheidet dann, ob wir dort hinschwenken oder nicht. Und wenn er grade keinen Bock auf einen Ratschlag hat, trinken wir stattdessen einfach ein Bier (lacht). Das schlimmste, was man tun kann, ist jemanden zu therapieren, ohne dass man danach gefragt wurde. Es gibt bei uns im Coaching die goldene Regel: Kein Coaching ohne Auftrag!
Bei ein, zwei Gläschen Wein mit Freunden landet man bekanntermaßen früher oder später bei der Frage nach dem Sinn des Lebens. In deinem Song „Immer mehr“ lautet eine Line: „Der Sinn des Lebens ist nur aufzuwachen, das Herz ist dir gegeben, um es aufzumachen.“ Was ist deine Vorstellung dieses „Aufwachens“? Was ist der Sinn des Lebens?
Wir suchen oft nach etwas, das wir noch nicht haben. Wir denken, das Glück wartet hinter der nächsten Ecke oder die Erleuchtung kommt irgendwann. Oder dass wir uns einen Sinn des Lebens erst erarbeiten müssen, indem wir schneller, besser, heiliger werden. Im Buddhismus gibt es eine Parabel über das Leben als Schlaf oder als Traum, die ich liebe: Stell dir vor, wir alle schlafen und träumen. Es gibt gute und schlechte Träume, es gibt Liebe, Tod, alle Hoch- und Tiefgefühlte in diesen Träumen. Irgendwann machst du die Augen auf und wachst auf. Du stellst fest, all das Vorige war nur ein Traum, jetzt erst bist du wach. Und obwohl es sich für dich bisher immer anfühlte wie die Realität, kannst du jetzt entspannt feststellen, dass es das nicht war. Dann denkst du an die ganzen Albträume, die du hattest, das ganze Leid, und du stellst fest: Sie kamen dir zwar real vor, du hast den Schmerz gespürt, aber sie waren „nur“ ein Albtraum. Du siehst dann die ganzen anderen schlafenden Menschen um dich herum im Schlaf, wie sie träumen, Ängste durchleben, Trauer bewältigen. Diese menschen kannst du zwar nicht aufwecken und ihnen weismachen, dass sie gar nicht wach sind, weil sich ihre Träume nunmal ebenso real anfühlen. Du kannst ihnen nur sagen: „Passt auf, eines Tages werdet ihr aufwachen, und wenn ihr schneller aufwachen wollt, probiert mal dies oder jenes. Zum Beispiel Meditation.“ Und gleichzeitig sagst du ihnen: „So lange ihr noch schlaft, macht euch diesen Schlaf so angenehm und schön wie möglich. Seid lieb zueinander, nehmt euch in den Arm. In Relation ist alles nicht so wichtig. Ich könnte mir vorstellen, so sind auch Religionen oder spirituelle Teachings entstanden: Es gab ein paar wenige Menschen unter uns, die aufgewacht sind – was auch immer das per Definition bedeutet. Für mich persönlich bedeutet es nicht, dass wir uns auf einmal in einer anderen Welt befinden, sondern dass wir – und das ist ein großes Wort – die wahre Natur unseres Daseins erkennen.
Wow! Glaubst du, dass zu jedem großen Geist auch ein wenig Dunkelheit und Melancholie gehört? Friedrich Nietzsche, der ja bekanntermaßen stark depressiv war, lehnte damals eine Psychotherapie ab mit der Begründung, dies würde ihm nicht nur seine Dämonen nehmen, sondern auch seine Engel.
In einer Non-Dualität hat alles Platz. Nehmen wir an, unsere wahre Identität ist nicht nur Schwarz oder Weiß, sondern ein unendlicher Raum, der alles beherbergt, dann geht es gar nicht darum, die Dämonen „auszutreiben“. Denn in dem Moment, in dem wir einen Teil von uns loswerden, unterdrücken oder abtöten, geht ein Teil unseres Menschseins verloren. Daher hatte Nietzsche wohl Recht. Marshall B. Rosenberg, der Erfinder der gewaltfreien Kommunikation, hat mal gesagt: „Ich glaube nicht, dass es im Leben darum geht, immer glücklich zu sein. Ich glaube, es geht darum, jedes Lachen zu lachen und jedes Weinen zu weinen. Denn jedes Gefühl ist ein Geschenk. Und das Geschenk ist, dass uns gezeigt wird, dass wir lebendig sind. Deswegen ist jedes Gefühl eine Offenbarung des Lebens.“ Ein wunderschönes Zitat. Vielleicht geht es also darum, mehr zu fühlen, mehr Mensch zu sein, mehr im Jetzt zu sein. Es sollte also (v.a. in der klassischen Psychotherapie) niemals irgendetwas aus unserem Charakter wegradiert, sondern das, was wir verstecken, ans Licht gebracht werden. Bei Carl Gustav Jung gibt es auch das Konzept der Schattenarbeit, die besagt, wir können unser Licht nie ganz sehen, wenn wir nicht auch unsere Dunkelheit kennen.
Dennoch glaube ich nicht, dass es diese Gefühle in jeweils extremer Intensität braucht, um kreativ zu sein oder einen großen Geist zu haben. Auch Menschen, die emotional nicht zu Extremen neigen, können tolle, komplexe innere Vorgänge haben. Man hat einfach dieses Bild des leidenden Künstlers, der ich vor 20 Jahren auch war – und ja, Schmerz und Leid können Ausdruck befeuern und Output katalysieren auf eine Art, die gesellschaftlich anerkannt ist. Kunst kann aber auch aus positiven Emotionen, Gleichgewicht und Sanftmut geschaffen werden. Da gibt es keine Hierarchie.
Ich würde gerne bei der „gewaltfreien Kommunikation“ nochmal einhaken. Bei vielen liegen die Nerven blank und es kommt zu Streits in Beziehungen. Wie streitet man richtig, ohne großen Schaden anzurichten?
Also erstmal: Ich weiß, wie fucking schwierig das ist (lacht). Wir sind oft zu getriggert, weil unsere Partner oder Menschen, die uns nahe stehen, natürlich genau die Knöpfe bei uns drücken, die am empfindlichsten sind. Ich glaube, dass wir immer dann am klarsten und am ehrlichsten miteinander sprechen können, wenn wir uns unserer eigenen Bedürfnisse in der Situation bewusst werden. Das bedeutet wirklich zu gucken, warum ich mich gerade so abgefucked fühle, was dahinter steckt und welches Bedürfnis sich tief in mir drin dahinter befindet. Ein Bedürfnis, das gerade nicht erfüllt wird und welches ich mit Händen und Füßen versuche zu verteidigen. Man muss üben, da ran zu kommen. Wenn man es irgendwie schafft, von da aus zu kommunizieren – was schwierig ist, weil das Gegenüber natürlich auch auf Angriff ist –, dann machen wir es uns selbst und dem anderen angenehmer, das Gespräch wird offener und bringt langfristig vermutlich viel mehr. Vielleicht muss man sich dann erstmal nicht mehr über Töpfe und Pfannen streiten, sondern man merkt, was eigentlich das Grundproblem ist und wo man sich nicht gesehen fühlt. Schafft man es, das zu äußern, gibt es die Chance, dass man sich grundlegend besser versteht und es gar nicht mehr so häufig zu banalen Streits kommt. Diese Übung ist eine Lebensaufgabe.
Wenn jemand zu dir käme, der mit Meditation und Spiritualität nicht viel zu tun hat, und sagen würde „Michael, irgendwie habe ich meine Balance verloren. Was kann ich jetzt sofort tun, um Besserung zu erzielen?“, was rätst du ihm?
Ein Wunderpille gibt’s leider nicht. Wenn irgendein Coach dir drei Tipps verspricht, mit denen du dein absolutes Traumleben führen kannst, dann ist das Schwindel. Die erste Tablette, die man einwirft, darf man nie mit der Heilung der Krankheit verwechseln, sie lindert nur die Symptome. Manche Menschen werfen fälschlicherweise ihr ganzes Leben lang diese Tabletten ein. Es gibt jedoch Methoden und Herangehensweisen, die in akuten Situationen helfen können. Eine zum Beispiel ist so einfach, dass es wirklich lächerlich klingt, und deshalb glaubt auch niemand, dass sie wirklich etwas bewirkt. In Situationen von Wut, Trauer oder Stress, in denen man das Gefühl hat, der eigene Kopf platzt, empfehle ich: Mach die Augen zu. Spüre deine Füße auf dem Boden. Erde dich. Und atme mindestens 4-5x ganz tief ein und aus. Wenn du dabei schreien musst, kannst du das auch tun. Aber du fühlst die ganze Zeit die Füße auf dem Boden. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass unser Parasympathikus im Gehirn recht schnell aktiviert wird, sobald wir richtig und bewusst tief atmen. Der ist dafür verantwortlich, dass die Pulsfrequenz sinkt, der Blutdruck sich senkt und die Produktion von Stresshormonen heruntergefahren wird. Das ist nichts Esoterisches, das ist Biologie. Diese eine Minute alleine reguliert unser Stresslevel im Körper schon beträchtlich. Von da aus kann man dann noch weiter gehen, wenn man will, auf seinen Geist schauen und sich fragen, was genau da gerade eigentlich los ist. Dabei atmet man weiter und spürt meinen Körper, die Füße auf dem Boden, den Hintern auf dem Stuhl oder sonst wo. Man verlagert die Aufmerksamkeit von den Gedanken hinaus und durch den Körper hindurch in den Boden hinein. Das ist eine sehr effektive erste Hilfe und hat eine immense Wirkung.
Was ist das größte Geschenk, das dir die aktuelle Krisensituation gegeben hat?
Das größte Geschenk ist, dass ich gemerkt habe, dass ich da, wo ich grade im Leben bin, ziemlich richtig bin. Die äußeren Umstände haben sich gerade radikal geändert, aber die grundlegenden Dinge in mir und in meinem Leben erschüttern sie nicht. Also zeigt mir das, dass die Art und Weise, wie ich mein Leben gestalte, für mich persönlich gut ist. Diese Einsicht war sehr krass. Ein paar Dinge sind mir allerdings auch aufgefallen, bei denen ich nicht da bin, wo ich sein will. Etwas unerwartetes z.B.: Meine Frau und ich (Anm. d. Red.: Sarah Desai, Achtsamkeits- und Meditationscoach und Autorin) leben in Berlin, mittendrin, alles ist belebt und es macht auch Spaß hier – ich habe aber gemerkt, dass die Verbindung zur Natur mir viel wichtiger ist, als ich bisher gedacht hatte. Eine Lehre, die ich daraus ziehe, ist, dass ich jetzt an einem Punkt meines Lebens, an dem ich diese Verbindung unbedingt brauche. Sei es in Zukunft ein kleiner Garten, eine schöne Terrasse oder vielleicht ein Zuhause am Wasser. Diese Zeit ist ein Katalysator dafür, dass wir merken, was in unserem Leben richtig und wichtig ist, und was vielleicht noch nicht so gut läuft. Alles, was da ist, wird intensiviert. Wer sowieso schon zynisch war, wird noch zynischer. Menschen, die extremen Anschauungen angehören, auch die extremisieren sich weiter. Es ist wirklich unglaublich spannend, was gerade alles passiert.
Damit unsere Leser*innen sich zuhause nicht langweilen und ein wenig von deiner Weisheit abbekommen – welches Buch empfiehlst du uns?
Ich habe mit „Not working“ von Josh Cohen angefangen, das passt zur jetzigen Zeit ganz gut. Es geht darum, wie sich Arbeit und unsere Selbstdefinition über Arbeit in unserer Gesellschaft im Laufe der Jahrtausende entwickelt hat. Und es ist ein Plädoyer dafür, Arbeit neu zu überdenken. Ich hab’s noch nicht fertig gelesen, aber die Prämisse ist sehr ansprechend. Ein weiteres Buch, das ich absolut liebe, ist „Wege zum Gleichgewicht“ von Tarthang Tulku. Es ist kein Buch über Buddhismus direkt, sondern eher ein sehr praktisches Buch mit vielen Hintergründen. Es geht um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Geist und unseren Emotionen und enthält auch Übungen. Als ich damals anfing, zu meditieren, war das eines der ersten Bücher, die man mir in die Hand gedrückt hat. Bis heute habe ich es sicher schon 20 Mal gelesen, und es ist immer noch krass.
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Und dann haben wir noch einen Buchtipp, und der Autor heißt – ha! – Michael Kurth. „Stell dir vor, du wachst auf“ gibt’s hier zu bestellen. Und damit wären wir dann wieder beim Aufwachen…