Na, welcher Tag ist heute? Und welcher Monat überhaupt…?! Tja, irgendwie raubt der aktuelle Ausnahmezustand ja wohl uns allen – mal mehr, mal weniger – den letzten Nerv. Viele versuchen daher, diese frei gewordene Zeit, die Isolation in den eigenen vier Wänden, mit neuen Hobbys zu füllen. Die Sporteinheit hier, das Bananenbrot da. Und zwischendrin ’ne Runde Meditation – oder Gartenarbeit. Stolz werden die geschafften Aktivitäten anschließend online geteilt. An Inspiration und Motivation scheint es auf Social Media in letzter Zeit nicht zu mangeln.
Doch was ist, wenn uns persönlich mal gar nicht der Sinn danach steht? Weder nach einer neuen Sprache, noch nach dem Renovieren der Küche? Was, wenn unser Alltag viel eher stagniert, weil das Gedankenkarussell einfach nicht still stehen will? Weil die Kinder plötzlich zuhause sind oder Gefühle der Angst und Unsicherheit uns nachts nicht schlafen lassen …? Und was, wenn einfach alles beim Alten bleibt? Wenn Netflix nach wie vor das liebste Hobby ist und die Home-Workout-Matte ebenso verweist, wie die unnötige Gym-Mitgliedschaft?
Der Druck kann groß werden, in genau diesem Moment. In jedem einzelnen Moment, in dem wir diejenigen sind, die sich nicht täglich selbst optimieren. Die nicht ‚produktiv genug‘ sind. Aber sollte es darum wirklich gehen? Während einer weltweiten Pandemie, deren Ende und Auswirkungen nach wie vor nur schwer einzuschätzen sind?!
Produktivität muss nicht zum erklärten Ziel werden
„Nicht unbedingt!“, erklärt die Expertin Dr. Stephanie Grabhorn, Chefärztin der psychosomatischen Privatklinik Blomenburg, der wir zur (offenbar notwendigen) Einordnung mal kurz unsere drängendsten Fragen gestellt haben:
„Die Corona-Pandemie wird als ein kollektiver, sowie individueller Kontrollverlust erlebt. Das Virus und die Gefahr, die von ihm ausgeht, lassen sich nicht mit Apps in den Griff bekommen. Die Menschen, die sich permanent selbst optimieren, schaffen sich mit diesen Etappensiegen und permanenten Zielen das Gefühl, ihr Leben im Griff zu haben. Auch für den Selbstoptimierer ist die Corona-Krise allerdings ein sehr beunruhigender Zustand. Denn die ständigen Botschaften über Selbstoptimierung und entsprechende Anregungen in den sozialen Netzwerken verführen die Menschen dazu, an die Illusion einer immer weiter zu steigernden Selbstverbesserung zu glauben. Das kann zu Frustration, Depression und Erschöpfung führen.“
Am Ende sind wir durch überhöhte Ansprüche (an uns selbst) also nicht zufriedener, sondern oftmals sogar angestrengter und gelähmter als zuvor. Und das, obwohl uns aktuell sicherlich auch ohne den nächsten Brotback-Contest schon genug im Kopf herumschwirrt. Sollten wir uns stattdessen also lieber komplett aus den Challenges herausnehmen, die da so engagiert auf allen Plattformen propagiert werden…?
Frau Dr. Grabhorn spricht sich für eine etwas differenziertere Herangehensweise aus: „Wie so oft ist es wichtig, die goldene Mitte für sich zu finden aus Hobbys, Bewegung, Kopfarbeit und entspanntem „Nichts“tun oder Faulenzen. Ablenkung muss beispielsweise nicht immer mit Aktion und Hektik verbunden sein. Man kann sich auch mit einer entspannenden, achtsamen Tätigkeit von Sorgen oder negativen Gedanken ablenken. Andererseits benötigt unser Gehirn auch mal Pausen und Erholung, um wieder kreativ und neugierig zu sein. Sicher ist jedoch, dass erzwungene Hobbys, die man ohne Freude ausführt, weil es „richtig“ ist und „man das doch machen sollte“, eher zu einem erhöhten Stresspegel, als zu echter Entspannung führen.“
Das Coronavirus und die Psyche …
Wir sind nun mal alle verschieden. Und während die einen beim Yoga abschalten können, suchen sich die anderen eben den nächsten Serien-Marathon heraus. Keine der Herangehensweisen ist schlechter, als die andere. Schon gar nicht in Zeiten einer globalen Krise. Wir sollten uns daher immer wieder bewusst machen: Die meisten durchleben diese Gefühle gerade zum ersten Mal. Es ist okay, erschöpft zu sein. Es ist okay, sich Auszeiten nehmen zu müssen. Oder sich mit Bewegung abzulenken. Oder Gespräche zu suchen. Oder auch einfach genau wie vorher weiterleben zu wollen.
Niemand sollte hier verurteilen. Oder verurteilt werden – schon gar nicht von sich selbst. Auch dann nicht, wenn die Ausgangsbeschränkungen Anfang Mai weiter gelockert werden … und wir im Anschluss daran unsere „Erfahrungen“ aus der Quarantäne unter Freunden zum Besten geben sollen.
Anstatt uns also erzwungenermaßen weiter mit Dingen zu beschäftigen, die uns keine Freude bereiten, sollten wir vielleicht lieber lernen, frei gewordene Stunden als solche hinzunehmen. Denn darin sind tatsächlich die meisten von uns ziemlich schlecht geworden. Uns fehlt der tägliche Arbeitsweg? Dann stopfen wir da halt ein Hobby rein! Wir sind auf Kurzarbeit gestuft worden? Dann muss wohl (oder übel) die Wohnung optimiert werden.
Lasst mal die mentale Gesundheit (wieder) in den Vordergrund stellen
Dabei muss doch eigentlich gar nichts. Wer sich ehrlich darüber freut, endlich Zeit für etwas zu finden, der sollte diese natürlich gerne nutzen. Wer sich aber nur hindurch quält, um am Ende weiteren Freizeitstress anzuhäufen … der darf jetzt gerne einmal kurz tief durchatmen (oder was auch immer sonst zur Entspannung führen mag):
„Sich für einen selbst Zeit zu nehmen, Ruhe zu genießen und „Nichts“ zu tun ist in einer Leistung- und Optimierungsgesellschaft schwer geworden. Schnell entstehen Schuldgefühle oder der Druck, etwas „sinnvolles“ tun zu müssen, um die Zeit richtig zu „nutzen“. Aber für unseren Körper und unsere Psyche ist achtsames Entspannen, Nichtstun, Träumen oder Dösen ein sehr erholsamer und gesunder Zustand, den ein Mensch regelmäßig braucht, um gesund zu bleiben. Wir dürfen es uns gönnen, Zeit ‚zu verplempern‘.“
Auch in unserem ’normalen‘ Alltag sollten wir uns diesen Gedanken vermutlich öfter mal vors innere Auge führen: Nicht jede Sekunde muss produktiv genutzt werden. Wir alle brauchen Entspannung, oder sogar Langeweile hier und da. Um Energie zu tanken und neue Lust zu verspüren. Vielleicht sogar auf andere Hobbys. Vielleicht aber auch einfach nur auf den nächsten Abendspaziergang … 🤷♀️
Entspannung durch Yoga… oder doch Netflix? UNSERE Entscheidung!
Denn natürlich tun uns Bewegung und Kreativität gut. Und natürlich ist beides immer irgendwie Bestandteil unseres Lebens. Aber eben niemals unter Druck und schon gar nicht unter der Prämisse, ‚besser‘ aus dieser Situation hervorzugehen, als wir hineingestolpert sind.
Grundsätzlich sollte uns dabei wohl vor allem eines klar werden: „Selbstoptimierung kann in Maßen eine gesunde Entwicklung unterstützen. Wenn es jedoch zum Selbstzweck wird, kann es auch zu einem Verlust von Werten und Identitätsgefühl führen. Sich permanent verbessern, verschönern oder die Leistung steigern, zu wollen kann zu Erschöpfung, innerer Leere und Schuldgefühlen führen. Unsicherheit und Ungewissheit, Freiheitsbeschränkungen und Zukunftsangst belasten uns Menschen ohnehin schon sehr. Manche können mit dem Gefühl, keine Kontrolle über die Situation zu haben, besser umgehen, andere geraten in Angst oder Depression.“
… Dagegen hilf Ablenkung – aber viel mehr noch liebevolle Einsicht. Wir alle halten uns hier wacker. So wacker es nur eben geht. Lasst uns darauf doch mal kurz stolz sein. Einfach so. Ohne gesellschaftlichen Druck, Produktivitätswahn oder zusätzliche Selbstzweifel. Sondern lieber mit der gehörigen Portion Schulterklopfer. Seid verständnisvoll mit euch selbst, ignoriert Instagram, wenn es euch nicht gut tut, lasst euch inspirieren, falls ihr das braucht. Und vor allem: Passt auf euch auf – körperlich, aber auch psychisch. Gerade daran sollten wir uns immer wieder gegenseitig erinnern. ❤️