Das bin ich. Anni. Redakteurin eines Online-Magazins, das sich am rasend schnellen Puls der Zeit orientiert. 21 Jahre jung, schwarze Haare, falsche Wimpern, künstliche Nägel. Ich liebe es, Frau zu sein, lege viel Wert auf mein Äußeres – manchmal zu viel – und lebe meine Sexualität so frei, wie es eine Frau in 2019 tun sollte. Ich bin stolz auf meinen Körper und zeige ihn gerne. Hin und wieder trinke ich Alkohol und gehe am Wochenende feiern. Ich kann Kim Kardashians Biografie und jeden Lover, denn sie hatte, im Schlaf aufsagen. Des Öfteren kotze ich mich bei meinen Freundinnen über Männer aus, ich schreibe jede Woche über Sex und lasse mir von keinem Typen etwas sagen. Ich verbringe viel zu viel Zeit mit Social Media.
Im weitesten Sinne bin ich also genau das, was eine 21-Jährige im 21. Jahrhundert eben so ist. Ein richtiger Millennial. Und eine moderne, liberale und selbstbestimmte Frau. Und: Ich gehe in die Kirche. Regelmäßig. Weil ich das so will.
Hä? Du gehst in die Kirche? WTF, so siehst du überhaupt nicht aus. Echt jetzt? Ja und was machst du da? Beten?
Sätze und Fragen, die mir auf diese Information hin jedes Mal entgegnet werden. Also wirklich, jedes Mal und – haha – mit einer Wahrscheinlichkeit so sicher wie das Amen in der Kirche. Und als ich meiner besten Freundin eben mitteilte, dass ich diesen Artikel schreibe, lautete ihre Antwort: „Oh je, ich weiß jetzt schon, was da für dumme Kommentare kommen.“
Ganz objektiv gesehen kann ich diese Reaktion zu 100% nachvollziehen. Kirche, Glaube, Spiritualität – Dinge, die sich in den Augen der meisten Generation-Y-Zugehörigen nicht mit all dem vereinbaren lassen, das ich eben aufgezählt habe. Und warum nicht? Weil’s ungewöhnlich ist. Zumindest kenne ich wenige Gleichaltrige aus meinem näheren Umfeld, die sich (platt gesagt) im Gottesdienst besser aufgehoben fühlen als auf der Couch vor’m TV. Und eine Sache möchte ich hier gleich klipp und klar deutlich machen: Das ist völlig okay. „Jedem das Seine“ klingt oll, die meisten vergessen das aber zu oft. Solange ein Veganer mir nicht meinen Kuhmilch-Latte aus der Hand schlägt und mich zum Veganismus bekehren will, ist es doch toll, dass er sein Ding durchzieht. Nur so als Beispiel. Dass das Thema Religion nochmal deutlich mehr Diskussionen auslöst und so ziemlich das heikelste der Welt ist, muss ich nicht erwähnen. Es reicht, wenn man sich hierfür ein bisschen mit der Geschichte der Menschheit und all den Kriegen, die deshalb je geführt wurden, auskennt. Was ich damit sagen will: Alles und jeder sollte respektiert werden – Christen, Juden, Moslems, Atheisten, was auch immer – solange es friedlich bleibt, okay? Aber genug Disclaiming.
„Gott ist Bullshit, und später trete ich mal aus der Kirche aus“
Das waren original meine Worte vor ein paar wenigen Jahren. Wenn so viel in meinem Leben und generell auf der Welt scheiße läuft, wie kann es dann einen angeblich gerechten Gott geben, zu dem ich auch noch beten soll? Unverständlich. Als Kind einer ehemaligen katholischen Religionslehrerin war mein erster Impuls als Teenager natürlich alles zu boykottieren, was auch nur im Entferntesten damit zu tun hatte. Kirche? Ih, was für Uncoole.
Was genau in welcher Reihenfolge passieren musste, um mich hinsichtlich dessen einmal um 180 Grad zu drehen, weiß ich ehrlicherweise gar nicht. Grob gesagt, ausschlaggebend dafür waren, jetzt im Nachhinein betrachtet, wohl aber so einige Phasen, in denen ich entweder heartbroken war, verzweifelt, oder nicht verstanden habe, warum mir bestimmte, verdammt nochmal unfaire Dinge immer wieder passieren. Was Menschen in so einer Zeit tun? Sie suchen sich irgendwo Trost und hoffen auf Halt. Im Grunde ist es doch das, wonach JEDER am Ende des Tages strebt: Das Gefühl, gut zu sein und geliebt zu werden. Manche setzen darauf, dass „Karma“ irgendwann schon alles regeln wird, manche leben nach reiner Rationalität – und ich fing an, mich mit der Vorstellung eben genau dieses gerechten Gottes, den ich bis dahin abgelehnt hatte, anzufreunden.
Was es mir gibt, gläubig zu sein – vor allem in der heutigen Zeit
Wenn ich am Wochenende oder nach Feierabend durch Hamburgs Straßen laufe, ist alles hektisch, laut, und stresst mich. Mein Kopf ist sowieso meistens am Rande der Explosion (sehr empathische Menschen wissen, wovon ich rede #Overthinking). Und es in Zeiten von ständigem, äußeren „Input“ zu schaffen, mal wirklich abzuschalten, ist für mich schwieriger als Quantenphysik. Ich bin eine Macherin, selbst beim Nichtstun bin ich gedanklich schon bei der nächsten Aufgabe, die es zu meistern gilt.
Sobald ich aber die Türen der Kirche öffne, ist alles so herrlich ruhig. Abgeschottet vom alltäglichen Trubel. Es gibt nichts, womit ich mich ablenken könnte. Für einen kurzen Moment bin ich an einem Ort, der eine so beruhigende und friedliche Wirkung auf mich hat, dass ich manchmal sogar Gänsehaut bekomme, sobald ich auf dem Bänkchen vor den Kerzen sitze und sich beim Beten sämtliche Anspannung löst. Manchmal gehe ich auch nur deshalb in die Kirche, um vorsätzlich zu heulen. Weil es raus muss und ich mich dort gut behütet fühle, selbst wenn (physisch) niemand außer mir da ist. Ganz ehrlich, wie oft setzt man im Alltag das professionelle Pokerface auf, um keine Schwäche zu zeigen?
Ich weiß, dass das für einige sicherlich bescheuert und unverständlich klingt. Aber wie meine Mama mir immer sagte: Der Mensch ist nicht einfach nur aus Fleisch und Blut, irgendetwas muss da noch sein. Und dieses „irgendetwas“ ist für mich – einen langen Weg der Verwirrung später – der feste Glaube daran, dass es einen Gott (wer auch immer er sein mag) gibt, der mich behütet und mein Allerbestes will. Der mir vergibt, wenn ich falsch handle, und mir den rechten Weg weist, sobald ich mal von ihm abkomme. Und ganz besonders: Einer, der immer da ist, und eben nicht vergänglich, wie so vieles andere im Leben. Wenn ich bete, kann das ganz verschiedene Beweggründe haben: Vielleicht muss ich Ballast abwerfen, vielleicht bin ich auch gerade besonders happy und will mich für alles, womit ich im Leben Glück hatte, bedanken. Vielleicht hat mir eine Person gerade das Herz gebrochen und ich wünsche ihr von Gott trotzdem (oder erst recht) das Bestmögliche überhaupt, um mit ihr Frieden zu schließen. Oder ich bete für die Gesundheit meiner Familie. Völlig egal. Es gibt mir etwas, das ich nirgendwo anders finde.
Widerspricht das alles nicht meiner Person?
Hm. Diese Frage stelle ich mir manchmal selbst. Niemand ist jemals frei von Vorurteilen oder bestimmten, konditionierten „Regeln“, wie Dinge auszusehen oder zu funktionieren haben. Wenn ich an eine im Jahre 2019 spirituelle Persönlichkeit denken müsste, würde mir sicherlich auch nicht zuerst eine immer geschminkte Sex-Kolumnistin in den Sinn kommen. Das ist nun mal einfach so. (Und ich setze mir hier übrigens auch keinen Heiligenschein auf und behaupte, nach allen Regeln des Christentums zu leben oder jedes Wort der Bibel für bare Münze zu nehmen. Überhaupt nicht. Zumal ich bei Weitem nicht mit allem übereinstimme, das damit einhergeht. In meinen Augen geht es darum aber auch nicht.) Insofern also ja, verstehe ich, dass die meisten denken ich verarsche sie, wenn ich ihnen davon erzähle.
Aber der Gott, an den ich glaube, ist eben einer, vor dem wir alle gleich sind. Read this again! Egal ob schwarz oder weiß, reich oder arm, konservativ oder liberal. Dass ich auf Instagram topless posiere oder keine Jungfrau mehr bin, ist meinem Gott egal. Da es mich als nächstenliebenden Menschen nicht definiert und in der Güte meines Herzens nicht einschränkt. Das müssen viele mal verstehen. Beziehungsweise… Nein. Nachdem ich kurz darüber nachgedacht habe, korrigiere ich mich. Eigentlich muss das niemand verstehen. Es reicht, wenn ich das tue – und er da oben.
Und genau deshalb entlockt es mir mittlerweile auch nur noch ein knappes, stolzes „Ja“, wenn mich mal wieder jemand mit der „Wtf-Du-Gehst-In-Die-Kirche-Frage“ konfrontiert.
Ja. Das tue ich. Und ich finde keine Worte dafür, wie schön sich das anfühlt.