Mit dem interaktiven TV-Event „Terror“ hat die ARD gestern etwa 6,9 Millionen Zuschauer vor den Fernseher gelockt. Du warst nicht dabei? Es handelt sich um einen 90-minütigen Film, der auf einem Theaterstück von Ferdinand von Schirach basiert. Hier eine kurze Zusammenfassung der ARD selbst:
„Darf man 164 Menschen töten, um 70.000 zu retten? Das Gericht steht vor einer schweren Entscheidung. Durfte der Kampfpilot Lars Koch eine Lufthansa-Maschine abschießen, um zu verhindern, dass ein Terrorist das Flugzeug auf die voll besetzte Allianz Arena stürzen lässt? Weil es keinen Befehl gab und er sich eigenmächtig über geltendes Recht hinwegsetzte, muss sich der 31-Jährige jetzt verantworten. Für den Familienvater ist klar, dass er als Soldat im Kampf gegen den Terrorismus nicht anders handeln konnte. Doch ist Lars Koch ein Held oder ein Mörder? Darüber verhandelt die große Strafkammer des Schwurgerichts Berlin.“
Die Zuschauer selbst fungierten als Schöffen im Gericht, wurden dazu aufgerufen zu entscheiden, ob Lars Koch für schuldig oder nicht schuldig befunden werden soll. Vorweg: Ich habe für unschuldig gestimmt, genau wie 87 % der restlichen Zuschauer auch.
Mich hat der Film nicht nur interessiert, weil der Autor Ferdinand von Schirach einer meiner absoluten Lieblingsschriftsteller ist und das Thema Terror uns nahezu täglich einholt, egal wo auf diesem Planeten. Nein, mich hat es auch interessiert, weil ich den Film mit den Augen einer Flugbegleiterin gesehen habe.
Ich bin jahrelang für eine deutsche Airline durch die Welt und in Europa umhergeflogen, kenne die Arbeit an Bord und habe mir während des Films immer wieder die Frage gestellt, was durch die Köpfe einer Crew ginge, wenn so etwas tatsächlich geschehen würde. Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich anders über Schuld oder Unschuld entscheiden würde, wenn ich wüsste, dass meine Freunde in dem Flugzeug sind, die ich während meiner Arbeit als Stewardess über Jahre hinweg kennengelernt habe.
Was würde ich wollen, wenn ich an Bord wäre, egal ob als Passagier oder Crew-Mitglied? Natürlich stellt man sich diese Fragen auch, wenn man nur gelegentlich ins Flugzeug steigt, aber ich habe Gesichter dazu. Momentaufnahmen, die die fiktive Geschichte für mich unglaublich real gemacht haben. Ich stelle mir Fragen noch einmal ganz anders, zum Beispiel, ob es ein Attentäter überhaupt ins Cockpit geschafft hätte und wenn ja, wie? Schließlich weiß ich, wie gut alle an Bord auch für solche Fälle geschult sind, was wir, auch gerade die Piloten, für Anweisungen haben. Was müsste passieren, dass die Tür geöffnet würde? Und was soll das für eine Waffe sein, von der im Film die Rede war, die es durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen geschafft hat?
Ich sehe die Gesichter meiner Freunde und Freundinnen, die als Piloten täglich durch die Gegend fliegen, sehe Verzweiflung in ihren Gesichtern, wenn all das tatsächlich passieren würde. Egal für wie unwahrscheinlich ich es halte, dass es überhaupt jemand ins Cockpit schaffen würde, ich habe sie dennoch vor mir gesehen.
Ich kenne Kapitäne und Co-Piloten, manche davon zählen zu meinem engsten Freundeskreis. Würde ich anders abstimmen, wenn ich wüsste, dass meine Freunde oder gar meine Familie in dem Flieger sitzt? Würde ich anders entscheiden, wenn ich in diesem Flugzeug wäre? Ich kann beides mit „Nein“ beantworten.
Mancher mag sich fragen, warum ich dann nicht anders entscheiden würde, wenn in dem Flieger meine beste Freundin stecken würde. Zum einen, weil ich meine Entscheidung nicht davon abhängig machen will, wer in dem Flugzeug ist.
Zum anderen, weil ich weiß, dass jeder einzelne dieser Menschen, die ich jahrelang kenne und von Herzen liebe, sich genauso entscheiden würde, auch wenn ich in dem Flugzeug wäre. Und das ist auch gut so. Ich würde weder meinen Freunden noch mir wünschen, bei vollem Bewusstsein, ohne etwas daran ändern zu können, in ein voll besetztes Stadion zu fliegen, wissentlich, dass sie es nicht überleben werden und noch mehr unschuldige Menschen in den Tod gerissen werden.
Ich weiß, dass jeder meiner Freunde, die als Piloten arbeiten, alles daran setzen würden, die Situation zu ändern. Im Film wurde die Situation als ausweglos dargestellt, das heißt es gab die Wahl zwischen Sterben und Sterben. Würde ich wollen, dass 70.000 Menschen trauernde Familienmitglieder und Freunde hinterlassen? Nein, es wäre ja schon schlimm genug, wenn 164 Menschen unnötig aus dem Leben gerissen werden.
Würde ich selbst die Entscheidung treffen wollen, eine voll besetzte Maschine voller Großmütter und -väter, Eltern, Kinder, Freundinnen, Geliebter, Verliebter oder kurz: Menschen, die vermisst werden, abzuschießen und damit den Tod und die Trauer so vieler Menschen in Kauf zu nehmen? Nein. Eindeutig nein. Ein Lars Koch, der in diesem Fall denjenigen verkörpert hat, hat sich so eine Entscheidung sicherlich nicht einfach gemacht. Ich stelle mir das als innerliche Zerreißprobe vor, eine Entscheidung zu treffen, wie es sonst nur das Schicksal kann. Würde ich ihn deshalb als Helden bezeichnen? Nein. Es ist nicht heldenhaft, über Leben und Tod zu entscheiden. In diesem Fall hat der Soldat entschieden, das Leben von 70.000 Menschen zu schützen, nicht als Privatperson.
Es ist allerdings egal, wie ich mich in diesem Fall entschieden habe, denn wichtig ist vor allem das: Ich hoffe wirklich von ganzem Herzen, dass niemals irgendjemand diese Entscheidung treffen muss. Dass niemals im wahren Leben so etwas passiert und niemals über so einen Fall vor Gericht entschieden werden muss. Ich hoffe, dass dieser Fall Fiktion bleibt. Für immer.