Als er fertig war, fuhr er einfach weg. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Damals hat es Monate gedauert, bis ich jemandem etwas sagen konnte. Als erstes erfuhr es meine beste Freundin. Ich hatte mich auf unserer Klassenfahrt betrunken und weiß nichts mehr von dieser Nacht. Sie hat danach nicht weiter gefragt und hat mich auch zu nichts gedrängt. Irgendwann hab ich selbst gemerkt, dass ich so nicht weitermachen kann und habe meiner damaligen Klassenlehrerin gegenüber Andeutungen gemacht. Ich denke, ihr war nie bewusst, was genau passiert war. Ihr muss wohl aber klar gewesen sein, dass es mir nicht gut ging und so ging sie mit mir zum Jugendamt, wo ich eine Selbsthilfegruppe vermittelt bekam. Wir haben uns beide gegen eine Anzeige entschieden. Vielleicht wäre sie anderer Meinung gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass es nicht „nur“ um eine Belästigung ging. Ich hatte Angst vor einer Anzeige, deshalb habe ich versucht, einfach nicht mehr daran zu denken.
Ganz hat das nie geklappt, obwohl ich meinen Heimatort nach der Schule schnell verlassen habe und auch jetzt nur noch ein paar Mal im Jahr zu Besuch komme. Ich hatte die ganzen Jahre über immer wieder Flashbacks, bin lange Zeit nicht mehr in Parks gegangen und war auch nachts nur selten allein unterwegs. Fahrradgeräusche haben mir Angst gemacht. Mit der Zeit wurde es besser, aber ganz verdrängen konnte ich es nie. Manchmal war es so, als wäre es gerade erst geschehen.
Letztes Jahr war auf einmal alles wieder präsent. Wenn ich wusste, ich komme abends erst im Dunkeln nach Hause, ging es mir schon Stunden vorher nicht gut. Seitdem der Silvester-Vorfall in Köln in den Medien war, ist es schlimmer geworden. Einen auf der Arbeit angebotenen Selbstverteidigungskurs hätte ich fast abgebrochen, weil mich die dort nachgespielten Situationen so an den Vorfall erinnert haben. Ich kam mit dem Geschehenen einfach gar nicht mehr klar, deshalb habe ich mich vor einigen Wochen zu einer Anzeige entschlossen. Der Beamte war sehr nett, hat mir alles in Ruhe erklärt, wenn ich etwas nicht von selbst erzählen konnte, stellte er Fragen. Trotzdem musste das Verfahren eingestellt werden, was mir eigentlich vorher schon klar war. Es waren ja keine Beweise vorhanden und inzwischen war einfach zu viel Zeit vergangen, um den Täter noch zweifelsfrei identifizieren zu können. Letzte Woche kam die Einstellung des Verfahrens mangels Täterermittlung. Keine Überraschung, aber ich hätte gedacht, dass sie zumindest ein wenig länger ermitteln. Und wirklich besser geht es mir damit auch nicht.
Ich weiß nicht, wie es mir jetzt mit der Einstellung des Verfahrens geht. Natürlich wollte ich, dass der Täter bestraft wird und niemand anders dasselbe durchmachen muss wie ich. Andererseits hatte ich auch wahnsinnige Angst davor, in einer Verhandlung aussagen zu müssen. Ich denke, so eine Anzeige ist für Opfer generell nicht leicht – egal wie sie endet. Die Einstellung des Verfahrens ist vielleicht unbefriedigend, aber durch eine Gerichtsverhandlung wäre noch viel mehr hochgekommen, und auch da kann es immer noch einen Freispruch geben – aus Mangel an Beweisen zum Beispiel.
Falls auch du von einem sexuellen Überbegriff oder sexueller Gewalt betroffen bist, musst du damit nicht allein fertig werden. Hilfe bekommst du zum Beispiel bei „Frauen gegen Gewalt e.V.„. Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen beraten überall in Deutschland Frauen und Mädchen und helfen bei der Bewältigung des Erlebten kostenlos und auf Wunsch auch anonym.
(Protokoll: Nina Ponath)